Kritische Theorie und Hermeneutik: Grenzen der hermeneutischen Kritik am Formalismus der kommunikativen kritischen Theorie
DOI:
https://doi.org/10.26248/ariadne.v11i0.985Abstract
Ausgangspunkt des Artikels ist die Frage, wie sich die Beziehung zwischen kritischer Theorie und Hermeneutik nach der berUhmten Habermas-Gadamer Kontroverse entwickelt hat. In diesem Streit hat Habermas den Universalitatsanspruch der Hermeneutik in Frage gestellt. Auf der einen Seite argumentierte er, daB die Hermeneutik ein BegrUndungsdefizit aufweise (kultureller Relativismus) und auf der anderen Seite, daB sie aus begrifflichen Grunden nicht in Stande ist, die systematischen Verzerrungen des sprachlichen Sinnes , die die "materialen Faktoren" des sozialen Lebens verursachen konnen, zu thematisieren. Diese zwei kritischen Argumente entsprechen den zwei Hauptangelpunkten der spateren Entwicklung der kommunikativen kritischen Theorie: a) der quasi transzendentalen Begrundung ihrer Kriterien durch eine Konsensustheorie der W ahrheit und b) dem Versuch einer Kombination von Verstehen und Erklaren in der Gesellschaftstheorie.
Was den ersten Punkt des Begrundungsdefizites angeht, hat Albrecht Wellmer wichtige Verbesserungen der habermasschen Diskurstheorie vorgeschlagen, fUr die er sich auf Argumente der gadamerschen Hermeneutik berufen hat. Er zeigte, daB die konsequente Ausfuhrung der habermasschen kommunikativen Wende die Anerkennung zentraler hermeneutischer Thesen voraussetzt, z.B. die These vom "hermeneutischen Zirkel", vom unausweichlich "ethnozentrischen" Charakter unserer Begrundungen, von deren antidogmatischen und zugleich antirelativistischen Natur u.s.w. Durch seine hermeneutische Reformulierung der kommunikativen Theorie gelangt Wellmer schlieBlich zu einer "negativen Rechtfertigung" der liberal-demokratischen Kultur.
Um die Anwendung dieser philosophischen Perspektive im Feld der politischen Philosophie konkreter zu untersuchen, wird weiterhin die habermassche Begrundung der Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates kurz rekonstruiert, an die sich auch die entsprechende wellmersche Theorie anlehnt. Die habermassche politische Philosophie grUndet auf der Idee eines internen Zusammenhanges zwischen den Menschenrechten und den Staatsbuergerrechten a n politischer Partizipation. Ιn ihrer Wechselwirkung reprasentieren sie die notwendigen Bedingungen eines idealen dialogischen Rechtgebungsprozesses. Dieser Begrίindungsstrategie setzt Wellmer eine hermeneutische Lesart der Beziehung zwischen individueller und kollekHver Freiheit entgegen. Erzeigt, daB man unmoglich die Bedingungen der Demokratie direkt aus der Diskurstheorie der Rationalitat ableiten kann. Gegen den habermasschen Formalismus hebt er die hermeneutische Idee hervor, daB die liberal-demokratischen Prinzipien eher den Inhalt einer geschichtlich ausgeformten, konkreten "liberal-demokratischen Sittlichkeit" bilden.
Im letzten Teil des Essays werden die Grenzen dieser hermeneutischhistoristischen ϋberwindung des habermasschen Formalismus untersucht. Der letzte hat nicht nur mit dem Verharren auf einer unhistorischen Begrίindung des Ideals zu tun, sondern auch mit der Abstraktion νοn den inhaltlichen Bedingungen des gesellschaftlichen und politischen Lebens, z.B. νοn dem Problem der Herbeifίihrung νοn sozialer Gerechtigkeit. Ιn dieser Hinsicht bleibt Wellmer der generellen Richtung νοn Habermas treu. Das wird anhand der Beispiele a) der wellmerschen Integrierung νοn Elementen der schmittschen Theorie der Entscheidung in die Theorie der Demokratie und b) seiner Aneignung ratedemokratischer Ideen νοn Hannah Arendt gezeigt. Ιn beiden Fallen zeigt sich Wellmers Verzicht auf eine theoretische Reflexion Uber die Verflechtung der Politik mit der Okonomie und der bίirokratischen Macht, eine Beziehung die er ausschlieBlich auf der Basis des habermasschen Dualismus zwischen System und Lebenswelt untersucht. Die zweite Frage des Habermas-Gadamer Streites, die Frage uber die richtige Kombination νοn Erklaren und Verstehen bleibt somit offen und fordert eine ϋberwindung des formalistischen Dualismus durch eine neue holistische-dialektische Theorie.
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